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Trauerlied für mein Pferd

Im Frühjahr werden die Schwalben zwitschern und schwatzen, wenn sie ihre Nester im Stall wieder beziehen, aber du wirst nicht mehr hier sein, sie zu begrüßen. Wenn der Hufschmied das nächste Mal kommt, wird er dich nicht beschlagen. Wenn am ersten Mai die Koppeln geöffnet werden, wirst du nicht darauf grasen. Dein Name – Carneval – wird auf keinem Koppelplan zu lesen sein, an keiner Box, an keinem Spind. Der nächste Tierarztbesuch wird dein letzter sein.

Du wirst tot sein. Du wirst nicht mehr grasen, fressen, saufen. Nicht mehr galoppieren, springen, buckeln. Nicht mehr betteln, schnauben, schnuppern, uns nicht mehr mit den Lippen betasten. Keinen Reiter mehr tragen und keine Kunststückchen mehr lernen. Du wirst deine Ohren nicht mehr ausrichten, um zu lauschen, nach Tönen, die wir Menschen nicht hören können. All das wirst du nicht mehr, zumindest nicht mehr in dieser Welt. Du wirst tot sein, doch wirst auch frei sein. Frei von Schmerzen und frei von den Unzulänglichkeiten der Pferdehaltung, die wir euch edlen Tieren zumuten.

Denken wir an den Unfug, den du gemacht hast: beißen, auf den Fuß steigen, den Schmiedegehilfen das Leben schwer machen, wegspringen, abwerfen …
Lass uns auf diese Vorkommnisse im milden Licht humorvoller Anekdoten zurückblicken.

Denken wir an die Fehler, die wir gemacht haben, weil wir ungeduldig, ehrgeizig, zornig und ängstlich waren. Denken wir an die Zeit, die wir uns manchmal nicht für dich nahmen, und dass unser Menschenverstand oft zu kurz griff, um dich zu verstehen. Machen wir unseren Frieden damit. Wir und du. Verzeihe uns unsere Fehler.

Erinnern wir uns an die schönen Erlebnisse. An gute, gemeinsam verbrachte Zeit.
An Harmonie der Bewegung; Einheit von Pferd und Mensch.
An Adrenalinschübe beim Springen und Ausreiten.
An die Verbundenheit mit einem Lebewesen.
Daran, was du uns lehrtest.
An gemeinsame Sonnenuntergänge.
Daran, dass du dem Tod schon ein paarmal von der Schippe sprangst und wieder gesund wurdest.
Erinnern wir uns an das Rauschen der Luft zwischen Reithelm und Ohren, wenn wir auf dir galoppierten.
An die Spaziergänger, die bei deinem Anblick verzückt schauten und ausriefen „Was für ein schönes Pferd!“
Ich erinnere mich, wie wir durch den Teich galoppierten und wir ohne Zügel über eine Reihe von Hindernissen sprangen, was mich in einen Rausch versetzte, sodass ich in der Nacht darauf kaum Schlaf fand.
Wir danken dir, dass du uns in unserer Welt aus Stahl, Beton, Plastik und Zynismus ein Stück Natur zurückgabst.

Du wirst nun deine letzte Reise antreten. Vergib uns, dass wir diese Reise beschleunigen. Wir tun dies in der Überzeugung, dass es das Beste für dich ist.

Wir sind keine religiösen Menschen, aber unser Gespür fürs Spirituelle sagt uns, dass der Tod nicht das Ende, sondern die Vollendung eines Zyklus und ein Übergang ist. Wohin? Da sind wir uns nicht sicher. Aber eines wissen wir: du – mein lieber Carneval – wirst unsterblich sein in unserer Erinnerung und in unseren Herzen.

Die kurze Version:

Im Sonnenlicht erstrahlte schweißglänzendes Fell.
Adern zeichneten sich ab auf durchpumpten Muskeln.
Naturkraft und Schönheit vereint in Sleipnirs Vetter.
Sanft-zärtliche Berührung meiner Wange, behutsam mit weicher Nase
spendete mir Erdmutters Trost, kurierte mich vom Lärm, Plastik und Zynismus des Alltags.

Jetzt wuscheliger Winterpelz, darunter betagte Knochen.
Kein Fellwechsel mehr für dich, alter Gefährte.
Wenn im Frühjahr die Schwalben zwitschernd und schwatzend ihre Nester neu beziehen,
wirst du nicht mehr hier sein, sie zu begrüßen.

Gehe in Frieden und sei frei.
Du wirst unsterblich sein in unseren Herzen.

(Bernhard Lembke, Frankfurt, Dezember 2021)